Was können wir in der Corona-Krise lernen?

Benjamin Isaak-Krauß, Vikar der Mennonitengemeinde Regensburg, hat für uns einen lesenswerten Beitrag von Tom Wright zusammengefasst.

Zweifellos werden einige in dieser Zeit fragen, warum Gott uns das antut. Ist es eine Strafe? Eine Warnung? Ein Zeichen? So fromm die Frage klingen mag, sie ist doch eher ein Reflex unserer rationalistischen Weltsicht: Alles muss eine Erklärung haben. Aber was, wenn es keine Erklärung gibt?

Statt sich anzumaßen, die Welt erklären zu wollen, gilt es, die biblische Tradition des Klagens neu zu entdecken. Klagen ist das, was passiert, wenn Menschen fragen: „Warum?“ und keine Antwort erhalten. Ins Klagen gelangen wir, wenn wir über unsere egozentrische Sorge um unsere eigenen Probleme hinausblicken auf das Leiden der Welt außerhalb unserer Komfortzone. Schlimm genug, in New York, London, oder Regensburg von einer Pandemie betroffen zu sein. Aber wie geht es den Menschen in den überfüllten Flüchtlingslagern auf Lesbos? Oder in Gaza? Oder im Südsudan?

In Zeiten von Corona lesen wir die Psalmen, das biblische Gesangbuch, mit neuen Ohren. „Herr, sei mir gnädig, denn ich bin schwach;“ betet der sechste Psalm, „heile mich, Herr, denn meine Knochen zittern vor Angst“. „Warum bist du ferne, o Herr“, fragt der 10. Psalm klagend, „Warum versteckst du dich in Zeiten der Not?“ „Wie lange, oh Herr? Wirst du mich für immer vergessen?“ (Ps. 13). Und schließlich: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Ps. 22). Ein verstörender Vers, besonders, weil Jesus selbst ihn in seinem Leiden am Kreuz zitierte.

Oft enden diese Gedichte am Ende mit einem frischen Gefühl der hoffnungsstiftenden Gegenwart Gottes. Leiden wird nicht erklärt, vielmehr erlebt der Gläubige inmitten des Leidens einen überraschenden Trost. Aber manchmal ist es auch umgekehrt. Psalm 89 beginnt mit Lob für Gottes Güte und Verheißungen, um plötzlich zu erzählen, wie alles schrecklich schiefgelaufen ist. Und Psalm 88 beginnt im Elend und endet in Finsternis: „Du hast Freund und Nachbar veranlasst, mich zu meiden; nur das Dunkel ist mein Vertrauter.“ Dies ist ein Wort für unsere Zeit der Selbstisolierung.

In der Bibel ist Klage nicht einfach nur ein Ventil für unseren Frust, Trauer, Einsamkeit oder unsere schiere Unfähigkeit, zu verstehen, was geschieht oder warum. Hier begegnen wir vielmehr einem Gott, der selbst klagt. Manche Christen stellen sich vor, dass Gott über allem steht, alles weiß, alles in der Hand hat, ruhig und unberührt von der Not seiner Welt. Dieser Gott ist der Bibel fremd.

Gott war von Herzen betrübt, lesen wir im ersten Buch der Bibel, über die gewalttätige Bosheit seiner menschlichen Geschöpfe. Er war am Boden zerstört, als sich seine eigene Braut, das Volk Israel, von ihm abwandte. Und als Gott persönlich zu seinem Volk zurückkam—um nichts anderes geht es in der Geschichte Jesu—weinte er am Grab seines Freundes. Paulus spricht vom „Seufzen“ des Heiligen Geistes in uns, wenn wir selbst mit der ganzen Schöpfung seufzen. An den dreieinigen Gott zu glauben. heißt, den einen Gott in den Tränen Jesu und im tiefen Seufzen des Geistes zu erkennen.

Christsein heißt nicht, erklären zu können, was geschieht und warum. Vielmehr heißt Christsein, gerade nicht erklären zu können—und stattdessen zu klagen. Wenn wir unsere Trauer zulassen, leidet der Heiligen Geist in uns mit an der Not der Welt. So werden wir, selbst in unserer Selbstisolierung, zu kleinen Heiligtümern, in denen die heilende Liebe Gottes wohnen kann. Wenn wir der Klage Gottes in uns Raum geben, weitet sich unser Blick, für das Neue, dass der Geist auch jetzt hervorbringt. Neue Formen der Nächstenliebe, neue wissenschaftliche Erkenntnisse, neue Hoffnung.

Quelle: . Veröffentlicht: 29. März 2020, Times Magazine

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